In den USA grassiert im Moment die größte Kündigungswelle seit der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 – auf 6,9 Millionen Arbeitslose kommen 10,9 Millionen offene Stellen. Als „the great resignation“ wird das Phänomen in den Medien bezeichnet.
Developer*innen sind angeblich an der Speerspitze der großen Jobrevolution – müssen Unternehmen hierzulande eine Kündigungswelle von IT-Fachkräften befürchten? Und wie kann die HR einer solchen Talentkrise entgegenwirken?
Gibt es eine great resignation in der IT-Branche?
In Europa kann man noch nicht von einer great resignation sprechen, Recruiter*innen und Unternehmer*innen hierzulande spüren den Wechsel am Arbeitsmarkt aber zunehmend. Speziell der Gesundheitssektor und die IT beklagen einen historischen Fachkräftemangel. Deutschland fehlt es momentan an rund 100.000 IT-Fachkräften, Österreich zählt mit 24.000 unbesetzten IKT-Arbeitsplätzen zu den negativen Spitzenreitern in der EU.
Zu den am dringendsten gesuchten Positionen gehören Software-Entwickler*innen – in den Vereinigten Staaten gelten sie sogar als Anführer*innen des „Big Quits“. Damit ist aber nicht gemeint, dass Developer*innen ganz aus dem Berufsfeld aussteigen, die meisten wollen ihren Job wechseln, weil sie unzufrieden mit ihrer aktuellen Position sind und glauben, anderswo etwas Besseres zu finden.
Developer sind schon länger bereit für einen Jobwechsel
Wie kam es zu dieser Unzufriedenheit unter Software Entwickler*innen, und warum fangen sie nun an zu handeln?
Bereits 2019 zeigte unser Developer-Report, dass zwei Drittel der Entwickler*innen sich einen Jobwechsel vorstellen könnten. Viele dieser passiven Kandidat*innen waren schon länger unzufrieden, jedoch nicht aktiv auf Jobsuche. Dann kam 2020 die Pandemie und plötzlich musste flächendeckend Remote Work ermöglicht werden, viele Unternehmen standen unter Druck Digitalisierungsstrategien zu entwickeln oder zu beschleunigen.
IT-Expert*innen und Developer*innen sind gefragter denn je, die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage wächst jedoch weiter. Das heizt den „War of Talents“ zwischen den Unternehmen an und Software Entwickler*innen werden regelrecht bombardiert von Jobangeboten. Währenddessen kämpfen Arbeitgeber*innen mit Gehaltserhöhungen etc. darum, ihre Angestellten zu halten. Fazit: Developer*innen sind aktuell in einer hervorragenden Verhandlungsposition.
Viele Developer*innen zwischen 30 bis 45 Jahren kehren dem Angestelltenverhältnis den Rücken und machen sich selbstständig. Das liegt unter anderem am Siegeszug von Cloud Computing und Crowdfunding Projekten, die die Finanzierung von Start Ups begünstigen.
Außerdem spielt der Anstieg von Remote Arbeit – in der Tech-Branche bereits vor der Corona-Krise – eine große Rolle. Nicht zuletzt bewegt sich die Softwarebranche immer mehr auf Low-Code oder No-Code Lösungen zu, die erfahrene Developer*innen als Teamleitung benötigen werden.
Warum immer mehr IT-Fachkräfte ihre Jobs kündigen
Der Kündigungsgrund ist meist eine Mischung aus verschiedenen Faktoren, die sich bereits eine Zeit lang kumuliert haben:
- Unangemessenes Gehalt: Bei Befragungen unter Entwickler*innen ist die Chance auf ein höheres Gehalt immer noch der wichtigste Grund für den Jobwechsel.
- Fehlende Flexibilität und Work-Life-Balance: Fast genauso relevant wie das Gehalt ist die Möglichkeit, sich Arbeitszeit- und Ort selbst bzw. im Team einzuteilen.
- Kritik an Technologien und Equipment: Viele Developer*innen versuchen jahrelang vergeblich, ihr Unternehmen von veralteten Technologien und Programmiersprachen abzubringen. Zu langsame oder fehlende Geräte frustrieren zusätzlich.
- Schlechte Unternehmenskultur und Führungsstil: Dazu tragen etwa wenig Autonomie bei Arbeitsprozessen, ein hohes Arbeitspensum mit wenig Wertschätzung oder fehlende und schlechte Beziehungen am Arbeitsplatz bei.
- Überforderung bis hin zu Burnout: Laut einer Studie von Haystack haben seit Beginn der Covid-19-Pandemie 83 % von Developer*innen Erfahrungen mit Burnout gemacht. Hauptfaktoren sind ein Mix aus zu hoher Workload bei zu wenig Arbeitszeit und steigende Ausfälle unter Mitarbeiter*innen.
- Mangel an Jobperspektiven und Weiterbildung: Im Branchenvergleich ist es Entwickler*innen besonders wichtig, neue Skills zu erwerben und am aktuellen Stand des Wissens zu sein. Wenn das eigene Unternehmen dies nicht unterstützt und die Aufstiegschancen zudem unklar sind, steigt der Wille zum Jobwechsel.
Das können Unternehmen gegen die große IT-Talentkrise tun
Neue qualifizierte Developer*innen zu finden und einzuarbeiten ist kosten- und zeitintensiv. Jetzt ist hierzulande der richtige Augenblick, vorhandene Unzufriedenheit aufzuspüren und HR-Maßnahmen zu überdenken.
Fragen Sie am besten Ihr vorhandenes IT-Team, wie sie ihren Einstellungsprozess erlebt haben und was optimiert werden könnte. Das Software-Entwicklungsteam sollte ebenfalls der erste Ansprechpartner sein, wenn es um die richtige Formulierung der Stellenbeschreibung und passende Kanäle der Ausschreibung oder Kontaktaufnahme geht. Im Allgemeinen ist es bei Developer*innen effektiver, direkt Kontakt aufzunehmen und die passiven Kandidat*innen zu überzeugen, warum genau ihr Skillset und Charakter zum eigenen Unternehmen passt.
Um Beziehungen zu potenziellen Bewerber*innen zu etablieren, ist die authentische Kommunikation der eigenen Employer Brand und Unternehmenskultur grundlegend. Nicht nur interessante Projekte und Erfolge, sondern vor allem eine mitarbeiterzentrierte Struktur und Kultur sollte auf all Ihren Kanälen sicht- und spürbar werden. Unterstreichen Sie dabei Faktoren, die Developer*innen wichtig sind - wie flexible Arbeitsmodelle, innovative Technologien oder Weiterbildungsprogramme, aber auch Werte wie nachhaltiges Arbeiten oder die Diversität und Inklusivität des Teams.
Tipps, um IT-Fachkräfte zu halten
Die great resignation hat aufgezeigt, dass der Fokus der HR-Abteilung mindestens genauso stark auf dem vorhandenen Team liegen muss wie auf der Akquise neuer Talente.
Folgende Punkte sollten Teil Ihrer HR-Strategie sein:
- Transparenz und Menschlichkeit als Grundlage aller HR-Prozesse: Moderne Technologien und automatisierte Verwaltung gehören dazu, sollten aber gewählt eingesetzt werden – bei emotionalen Themen ist die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht immer noch am wirksamsten.
- Machen Sie regelmäßige informelle Check-Ups: Besonders bei Remote und hybriden Teams ist es wichtig, neben dem Projektfortschritt auch persönliche Befindlichkeiten und Probleme zu ermitteln – ob per Video-Chat oder Jour Fixe mit Kaffee.
- Seien Sie wertschätzend gegenüber Ihren Entwickler*innen: Etwa, indem Sie sicherstellen, dass der geeignete technische und zeitliche Rahmen für ihre Aufgaben gegeben ist. Belohnen Sie intensive Arbeitsphasen mit Zeitausgleich, finanziellen Boni und gebührendem Feiern.
- Zeigen Sie Vertrauen, in dem Sie Developer*innen Verantwortung übertragen: Geben Sie Teams und Einzelnen mehr Autonomie in der Art, wie sie ihre Arbeit verrichten. Vermeiden Sie Micromanaging und Leistungsbeurteilung per Überwachungssoftware.
- Seien Sie offen für die Modelle und Tools moderner Zusammenarbeit: Im Team entscheiden Sie, wie hybrides und flexibles Arbeiten organisiert werden kann, welche kollaborative Software verwendet wird etc.
- Investition in Weiterbildung und die Employee Journey: Es beginnt mit der Frage, ob Ihre Developer*innen ausgelastet und gefordert sind – gibt es Möglichkeiten zum Upskilling oder Interesse am Erlernen neuer Technologien? Besprechen Sie Möglichkeiten des Aufstiegs im Job oder auch Umstieg und Rollenerweiterung. Perspektive und Entwicklung sind das A und O für Mitarbeiterbindung.
- Öffnen Sie die Türe für internes Recruiting und Boomerang-Kandidat*innen: Der Aufwand, um neue Mitarbeiter*innen einzustellen und einzuschulen ist mitunter höher als Personen der eigenen Belegschaft für neue Positionen zu qualifizieren. Kommunizieren Sie offen, dass interne Job-Mobilität möglich und erwünscht ist.
Auch Developer*innen, die in der Krise aus dem Unternehmen aussteigen, könnten früher oder später zurückkehren – halten Sie daher die Möglichkeit der Rückkehr in Aussicht und pflegen Sie Kontakte mit ehemaligen Angestellten.